St. Petersburg

Meine Schwester und ich werden jedes Jahr von Elisa auf eine Reise eingeladen, Grossmami ist auch mit von der Partie. Früher waren das Badeferien am Meer, so waren wir schon mehrere Male in Griechenland und Tunesien. Natürlich haben wir auch etwas vom allfälligen kulturhistorischen Angebot profitiert. Mit der Zeit wurde uns das Baden aber zu langweilig und wir entschieden uns für Städtereisen. Wir besichtigten Rom, kamen nach London, lernten Istanbul kennen und entdeckten diesen Sommer St. Petersburg.

Diese Stadt ist bisher meine liebste Reisestadt, knapp vor Istanbul. Ich möchte auf gar keinen Fall dort leben, hinter den geputzten Fassaden ist der russische Alltag wohl immer noch sehr hart, aber das Touristengesicht hat mich absolut fasziniert. St. Petersburg wurde 1703 von Peter dem Grossen gegründet. Es feierte also gerade seinen 300. Geburtstag und ist damit eine sehr junge Stadt. Vor 300 Jahren entschied der Zar Peter der Grosse, dass er am frisch eroberten finnischen Meerbusen eine Stadt bauen wollte, um endlich auch eine Flotte aufbauen zu können. Dort an der Mündung der Newa war aber ein Sumpf. Alle Gebäude mussten also auf Baumstämme gestellt werden, die Stadt wird wegen ihrer Kanäle oft das Venedig des Nordens genannt. Tausende fanden den Tod bei den Bauarbeiten. Doch Peter trieb das Projekt mit allen Kräften voran, St. Petersburg wurde Regierungssitz, alle Adligen wurden zwangsumgesiedelt und mussten ihre Paläste aus Stein bauen.

Die wunderschönen Fassaden erstrahlen heute in neuem Glanz, der Tourismus ist offensichtlich als Einkommensquelle erkannt worden. Seit dem Jubiläum werden die Häuser restauriert, die meisten Arbeiten sind schon abgeschlossen. Das Stadtbild ist unvergleichlich, die Kanäle haben schon an sich einen grossen Charme, doch dort dienen sie als Kulisse, um einen freien Blick auf die langen Reihen hoher, farbiger Fassaden zu erlauben. St. Petersburg ist eine seltsam westliche Stadt (auch das ein Wunsch Peters des Grossen), ausser der Auferstehungskirche mit den berühmten farbigen Zwiebeltürmen findet man keine "typisch russischen" Bauwerke.

Sehr imposant sind natürlich die Zarenpaläste, die etwas ausserhalb liegen. Auf dem Weg dorthin sahen wir auch die Wohnviertel, wo die normale Bevölkerung lebt. Das ist etwas ganz anderes. Um so stärker der Kontrast zum prunkvollsten Palast, dem Katharinenpalast. Riesige Ballsäle sind vollständig mit Gold und Spiegeln eingekleidet, auch aussen werden die ursprünglichen Vergoldungen wiederhergestellt. Die repräsentative Macht der Zaren muss gewaltig gewesen sein. Dort lernten wir auch den Begriff "russische Hängung" kennen: die Wände waren anstatt mit Tapeten mit Gemälden bedeckt, wobei diese in keinerlei Zusammenhang standen, sie waren so platziert worden, dass die Wände gleichmässig bedeckt waren. Wenn das kein Zeichen der Dekadenz ist...!

Das zeigt sich auch in der Ermitasch (in russischen Buchstaben vorzustellen) resp. Eremitage, dem weltberühmten Museum. In mehreren Palästen im Stadtzentrum hat vor allem Zarin Katharina die Grosse (die wohl wichtigste Zarin nach Peter dem Grossen) eine riesige Kunstsammlung zusammengetragen. Dort gibt es alles: Bilder, Skulpturen, Mumien, Keilschrift, Steinzeitfigürchen, Porzellan, Schmuck etc. Man müsste Tage Zeit haben, um die verschiedenen Ausstellungen zu besuchen. Ein absolutes Highlight war die Schatzkammer, die man nur als geführte Gruppe unter strenger Aufsicht besichtigen kann. So etwas habe ich noch nie gesehen: "das Gold der Skythen" ist eine Ausstellung unglaublich feiner Goldschmiedearbeiten aus dem 1. Jhd. v. Chr. Wunderschön!

Doch auch dort wieder: vor lauter Überfluss an Kunstwerken ging der Zusammenhang völlig verloren. Mit einem Schritt ist man plötzlich in einem anderen Raum mit edelsteinbesetzten Schwertern, die indische Maharadschas den Zaren geschenkt hatten. Wir machten schnell wieder kehrt und vertieften uns in die Wunder des Skythengoldes. Der Rest des Museums macht einen ähnlich chaotischen Eindruck, die Gemälde sind nach Land und dann nach Maler geordnet, es gibt keinerlei Hinweise auf kunsthistorische Epochen oder ähnliche Hintergrundinformationen, die Ausstellungstechnik ist völlig veraltet. Alles in allem: eine unglaubliche Sammlung, die in mehreren Museen ein riesiges Potential hätte, so aber einfach nur abstumpft. Mais bon, man muss es wohl einmal im Leben gesehen haben. Wenn man mehrere Tage nur für die Eremitage hätte, könnte man Teil für Teil vielleicht besser würdigen.

Die Atmosphäre der Stadt war sehr angenehm, es hatte keine grossen Menschen- (Touristen-)massen auf den Strassen und man erstickte nicht in Abgasen. Wir hatten aber auch Glück: Die Hauptschlagader der Stadt, der Nevsky-Prospekt, wurde über Nacht neu geteert. So wurde die Strasse mit 3 Spuren in beiden Richtungen für ein paar Tage zur Fussgängerzone erklärt. Ausserdem haben wir drei der wenigen Sonnentage erwischt. St. Petersburg ist nämlich auch die "nördlichste Millionenstadt der Welt", sobald die Sonne nicht mehr schien wurde es kalt. Wir machten unsere Reise zwar nach den "Weissen Nächten", in denen es gar nicht vollständig Nacht wird, aber die Tage waren trotzdem noch deutlich länger als bei uns.

Prägend für das Stadtbild waren auch die jungen Russinnen. Wir sahen auch an den Regentagen noch mehrere junge Frauen mit Modelfiguren, die in Stilettos und Minijupe durch die Strassen stolzierten. Umso krasser war der Gegensatz zu den jungen Männern. Viele wirkten ungepflegt, trugen Trainer und sahen schlecht aus. Erstaunlicherweise hatten solche Exemplare manchmal trotzdem eines der Püppchen erobert, die sicher mehrere Stunden vor dem Spiegel standen, bevor sie aus dem Haus gingen. Hin und wieder begegneten wir auch alten verrunzelten Weiblein, die Pilze, Früchte, Nüsse oder Gemüse verkaufen wollten. Sonst war es aber schwierig, ein Lebensmittelgeschäft zu finden. Auch die Restaurants und Cafés waren erstaunlich dünn gesät.

Den Höhepunkt der Reise bildete für mich der Besuch im Ballet: Romeo and Juliet von Prokofiev... Ein wunderbares Erlebnis! Das herrlich kitschige und traditionsreiche Mariinsky-Theater war eine geniale Bühne für die spannenden, romantischen und tragischen Begebenheiten der Geschichte um Romeo und Julia. Er ein Asiat mit ausdrucksstarkem Gesicht, sie klein, zart und verträumt... Dazu beeindruckende Gruppenszenen, schöne Kostüme und Prokofievs unvergleichliche Musik... Von meinem Platz in der Mitte der ersten Reihe aus sah ich alles, super! Die Inszenierung hat mir sehr gut gefallen, auch wenn ich keinen direkten Vergleich habe.

Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, Elisa noch einmal mit Dank zu überschütten für diese unvergesslichen Tage!

One response to “St. Petersburg”

  1. Danke

    für den wunderschönen Bericht und den darin verpackten Blumenstrauss für mich. Ja, die Ermitasch ist ein Thema für sich; dort ist zuviel des Guten; ausmisten und neu ordnen wäre die Devise; dabei das, was wir heute als Grümpel empfinden (und davon hat es viel) zwar nicht wegwerfen, aber b.a.w. in den Magazinen verschwinden lassen. Dann neu ordnen; ist natürlich angesichts der historischen Gebäude schwierig; aber nos amis français haben es im Louvre auch geschafft ; war immerhin ebenfalls ein grosser Brocken, wennn auch nicht so komplex wie Ermitasch. Lili und ich haben mit Vergnügen festgestellt, dass ein Mini-Anfang gemacht wurde mit der Sektion "Kaukasische Völker"; aber eben - bis die moderne Denke die "bel-étage" erreicht ...... das geht noch Jahrzehnte. Und das Volk strömt ja in Massen heran, Genuss ist das für niemanden, aber wenige sagen es, weil sie Angst haben, als Kulturmuffel dazustehen. E-Mail-Info hat wunderbar geklappt; danke, erleichtert mir das
    Leben ungemein. Elisa

    Submitted by Elisa